Als Ernst Moritz Arndt mit dem Anliegen vom Himmel stieg, in Ruhe gelassen zu werden

 

 

 

 

Greifswald (SPA): Auf einer Wochenendreise sitzen wir, zehn Greifswalder Freunde, auf ein Getränk im Freiluftbereich einer netten Cafeteria. Kaum abgelenkt durch den zu dieser frühen Uhrzeit noch übersichtlichen Strömungsverlauf in der angrenzenden Fußgängerzone parlieren wir über Gott und die Welt. Mehr über die Welt - und landen irgendwann beim dauerreizenden Thema Ernst Moritz Arndt.

 

Durch die bloße Schilderung des Status Jetzt - Verlust der Funktion als Namenspatron der Universität, Bürgerinitiative, kein bejahender Beschluss über ein Denkmal in der Bürgerschaft - wird Andreas emotionalisitriggert. Er ist Greifswalder wie wir alle, aber ist als Einziger von uns in dieser Stadt aus seinem Ei geschlüpft. Andreas erfuhr seine Sozialisierung auf dem Rodelberg, in den Katakomben von Schönwalde Zwo und als Kurzvorwendegeborener bereits durch ZDF und RTL. Die Identität des Greifswalders, diese schwer zu beschreibende Ernst-Moritz-Arndt-Identität sog er zuerst aus der Mutterbrust (die ebenso in Greifswald geboren und gewachsen) und später aus jedem Sauerstoffatom, das durch den steifen Nordwest in seine Hood geblasen wurde.

Andreas wirkt bereits erhitzt, als er mit seiner Sicht der Dinge beginnt. Die Wärmezufuhr wird zudem während seines Vortrags über ein offenbar externes Steuerelement in Richtung Glühen reguliert. Just in dem Kapitel, in dem er sich identitätslosen Zugezogenen im Allgemeinen, ahnungslosen Wessis im Besonderen widmet, schieben sich zwei Wolken am Himmel auf. Mitten aus einer sich ausdehnenden, blutroten Korona senkt sich eine Treppe recht steil zu uns hinab, auf der ein Mann hinuntersteigt. Mit den Worten "Gestatten: Ernst Moritz Arndt" klopft er auf unseren Tisch und nimmt auf einer Art postmodernem Thron Platz, der aus dem Nichts unseren Plätzen gegenüber erschienen und auf dem historischen Pflaster der verkehrsberuhigten Zone positioniert ist.

Arndt nutzt die entstandene Stille, um sich über das Kinn zu streichen und das an den Fingerspitzen haftengebliebene Puder wegzupusten. "Ich weiß. Der Wiedererkennungswert ist gleich Null. Aber wir haben jetzt eine Neue in der Maske. Die hat zu Lebzeiten schon Ludwig XIV. zum Ausgehen präperiert." Peter fragt: "Gar nicht im pommerschen Blau-Weiß, Herr Arndt?" Arndt schaut an sich hinunter und sagt: "Das ist mein Auswärtstrikot. Die neueste Kreation von diesem Lagerfeld."

Wir lachen. An Andreas gewandt, wünscht Arndt eine Fortsetzung des Vortrags. Und Andreas setzt fort. Von Schriften, Aufsätzen und Worten, die ebenso im Kontext ihrer Zeit zu beurteilen seien wie Namensumbennungen durch Nazis oder deren Beibehaltung in der DDR. Auch, falls der Kontext hin und wieder bissel aus dem Kontext gerupft sei. Schließlich, und damit endet sein Plädoyer, sei es doch vermessen, ein allumfassendes Urteil darüber zu fällen, was Arndt so alles im 16. oder 17. Jahrhundert von sich gegeben hat.
Arndt kann sich nicht totlachen, aber wenigstens versucht er es. Ich lehne mich zurück und erkenne, was Sascha Ott und Philipp Amthor, der Älteste aller Politik-Newcomer, einst auf dem Greifswalder Markt meinten, als sie das Mikro unisono mit dem Sechssilber Geschichtsexorzisten traktierten.

Arndts Lachen endet abrupt. "Kennt ihr Voltaire?". Nicken im Rund. "Bei den Weibern ein flatterhafter Mensch. Aber ein vorzüglicher Gegner beim Schach." Dann erhebt sich Arndt aus seinem Thron, beugt sich an unserem Tisch weit nach vorn und senkt seine Stimme um einige Millidezibel, da er unseren Ohren so viel näher gekommen ist: "Wisst ihr, was der gesagt haben soll? Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat." Er zwinkert Andreas zu und sagt: "Denk mal." Klopft auf den Tisch. "Jetzt lasst mich bitte endlich in Ruhe!"

Und dann steigt Ernst Moritz Arndt eine Treppe hinauf, die in einer blutroten Korona verschwindet, bevor sich zwei Wolken zusammenziehen.

 

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