Wie das Wahlplakat nach Greifswald kam

 

Greifswald (SPA): Alle Jahre wieder wird die Hansestadt Greifswald noch ein Stück bunter und präsentiert farbenfrohe Wahlplakate an sonst eher farblos-eintönigen Verplakatierungselementen. Reife, vom Leben gegerbte Gesichter, die wohlgekämmt und mit einem schelmischen Lächeln Kompetenz vermitteln, auf Minimalismen heruntergebrochene Slogans, die fordern oder versprechen sowie Volksparteien, die mit dem Manifest "Wir sind Arndt" einDRUCKsvoll das letzte Rudiment ihrer Identität verhökern.

Aber: Wo kommt es her, das Wahlplakat? Welche Geschichte besitzt es in Greifswald? Waren die Menschen und Parteien, die hinter (oder neben) solch pappenen Schautafeln stehen, schon immer so kreativ und vielsagend, begegneten sie einander mit Akzeptanz und wurde Muttis Ansage "Du sollst nicht mit dem Zeigefinger auf andere Menschen und Organisationen zeigen!" auch damals schon Beachtung geschenkt? Für die Beantwortung dieser Fragen begaben wir uns zu Heinrich F. in Schönwalde Zwo, der den größten Fundus an Greifswalder Reliquien sein Eigen nennt und in Ermangelung eines Stadtmuseums in seinen vier Wänden (es sind in dieser Drei-Zimmerwohnung eigentlich deren zwölf) verwaltet. Und wir erlebten eine Überraschung.

Eine schlichte Malerei aus dem 3. Jahrhundert, geschaffen 1000 Jahre vor der Gründung Greifswalds, ist der erste Nachweis von Wahlwerbereien auf dem Terrain des heute sauber abgesteckten städtischen Claims. Marodierende Ostslaven und aus dem Süden über die Neiße-Oder-Wasserstraße anreisende Sorben unterhielten an der Mündung des Ryck einen lukrativen Handelsplatz, der verwaltet werden wollte. Zu diesem Zweck ließen sich offenbar mehrere Interessenvereinigungen dazu hinreißen, Jahrhunderte vor der Erfindung des Buchdrucks auf 1,50x1,00m exportiertem Kupferschiefer ihre grundlegende Forderungen malend und gemeinsam zu formulieren. Wir haben entschlüsselt:


Detailansicht Eins: Der Tier- und Artenschutz stand bereits auf dem Programm. Der aufsteigende Vogel, es könnte eine Taube sein, sowie gleich zwei Rettungsschirme symbolisieren deutlich die Relevanz dieses Themas. Deutungsmöglichkeit Zwei wäre hier, dass es durchaus bejahend sein könnte, sich von braunen Schirmen abzuheben und von schwarzen fernzuhalten.

 

Detailansicht Zwei: Eine Interessenvereinigung, möglicherweise ein spätantiker Vorgänger der FDP, setzte sich mit seiner Zeichnung massiv für die wirtschaftliche Entwicklung der Region ein und erkannte schon damals deren touristisches Potential. Mit Sonnenschirm, Segelboot und Liegematte war dieser Bewerber seiner Zeit weit voraus.

 

 

 

Detailansicht Drei: Das bezahlbare Wohnen steht vermutlich im Mittelpunkt dieser Wahlwerbung. Während die Unterschlüpfe in ihren klaren Konturen sehr vollendet wirken, lässt die fragmentarische Darstellung des Menschen den Betrachter ein wenig ratlos zurück. Malereideuter verweisen auf diese in mehreren Kulturen nachgewiesene Symbolik psychischen und physischen Unwohlseins.  

 

 

Detailansicht Vier: Eine Sensation dürfte dieses Detail des Werbeprospektes sein. 1800 Winter vor der Energiewende, zu Zeiten des Torfabbaus mit dem Steinkeil, ist diese Zeichnung das erste nachweisbare Fragment eines Windrades. Solch "grüne" Ideen ließen sich bis jetzt nicht in dieses Zeitalter verorten.

 

 

Detailansicht Fünf: Auch diese Malerei lässt unerwartete Deutungen zu. Der stürzende Radfahrer, von Schnee bedeckte Verkehrswege zeugen von der archaisch hingekritzelten Forderung nach einer verbesserten technischen Infrastruktur.

 

 

Detailansicht Sechs: Auch der Rechtspopulismus hat eine lange Geschichte und setzte bereits damals auf simple, einfach formulierte und leicht zu entschlüsselnde Forderungen. Zweihundert Jahre vor der Erfindung der Himmelsrichtungen durch den Sorben Juri Ost ist die Botschaft dieses Bildes klar: der nach links geknickte Schirm symbolisiert die für die gemäßigte Westwindzone völlig sachfremde Forderung nach mehr Rechtswind, der Blick des Menschen ist nach rechts (Osten) gerichtet, wo die Leute damals die Weiten Russlands vermuteten.

 

Detailansicht Sieben: Eine mobile Werbeeinheit ist keine Erfindung der Neuzeit sondern befindet sich auch auf diesem uralten Panoptikum. Ein davonfliegender Schirm, der wahrscheinlich für sich, also als Schirm selbst, steht und irgendwann vor Rossmann oder einer Apotheke zum Liegen kam. Falls es das damals schon gab.

 

 

Detailansicht Acht: Zwei ineinander verkeilte Schirme, die in ihrer Mitte ein deutlich sichtbares (Wahl)Kreuz bilden, gehören zu den längst vergessenen Wahlforderungen, Versprechen, Wünschen.

Miteinander!

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Kommentare: 3
  • #1

    XY und Z (Montag, 20 Mai 2019 18:49)

    Nach einer langen Pause (?) wieder einmal großartig. Mittig in den Schritt.

  • #2

    Sabienes (Mittwoch, 22 Mai 2019 16:43)

    Danke für diese gelungene Analyse! mit diesem Beitrag habt ihr es mal wieder in meine Coolen Blogbeiträge geschafft! Sie erscheinen morgen (Donnerstag) auf https://sabienes.de.
    LG
    Sabienes

  • #3

    Brycke (Donnerstag, 23 Mai 2019 14:37)

    Oh ... Super und Danke, Sabienes