Durch´s wilde Sorbistan

Mieses Karma: Ein Z im wilden Sorbistan

 

Greifswald / Lohsa (SPA): Mit jungen 12 oder 13 Jahren pinkelten mein Freund Maxe und ich ein Z in den Schnee. Frühpubertärer Übermut auf dem Landweg zwischen der Lohsaer Siedlung und der alten Köhlerei. Mit breiten Skiern unter den Füßen, kurz nachdem wir den Mantel- und Degenfilm Zorro das erste Mal im Dorfkino gesehen hatten. Den Weg und auch die Köhlerei gibt es heute nicht mehr – weggebaggert zum Zwecke des Kohleabbaus und nun geflutet mit den Wassern der Kleinen Spree. Seit dem letzten Wochenende weiß ich: Das gelb dahingestrullte Z war eine Prophezeiung. Mieses Karma, das mich noch in diesem Leben eingeholt hat.

Auto, Bahn oder Bus? Ich wähle nach einer Kosten- Zeit-Analyse die Bahn und teil es Lina telefonisch mit. Spürbare Freude bei meiner Tochter am anderen Ende der Leitung: „Dann können wir ja etwas spielen.“ „Na klar. Mama muss dich nur von der Schule frei stellen (ich vernehme zwei einsilbige, begeisterte Laute Heranwachsendensprech) und ich hole dich gleich nach der Arbeit ab. Am nächsten Morgen ist dann scharfer Start.“

 

Der Freitagmorgen läuft wie am Schnürchen. Bis zum Nachmittag. Im ersten Zug von Greifswald nach Bernau hält mir ein Mann ein ihn ausweisendes Kärtchen unter die Nase: „Darf ich kurz stören. Horst Albrecht von der Deutschen Bahn. Kundenbefragung. Haben Sie ein wenig Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten?“ Als aufgeschlossener Mensch bejahe ich sein Anliegen. „Dann möchte ich Sie zuerst um ihren Fahrausweis bitten.“

 

Meine Fahrkarte habe ich mir per Email schicken lassen und sie dann ausgedruckt. Sie besteht aus einem QR-Code. QR bedeutet Quick Response oder in der bei solchen Dingen vergessenen Sprache: schnelle Antwort. Ich versuche nun, in Kundenbefrager Albrechts Augen den QR-Leser ausfindig zu machen, schnalle jedoch nach vier Minuten, dass er ganz schnöde die analogen Daten des Tickets in seine Aufzeichnungen überträgt. Mich lüstert es, ihn zu stänkern: „Früher ging das schneller, oder?“ Unbeirrt und freundlich gibt Herr Albrecht zurück: „Ich bin sofort fertig.“

 

 

Quick Response - Code: Kundenbefrager der Deutschen Bahn analogisieren die Daten mit bloßen Augen.

Sofort endet nach weiteren fünf Minuten. Dann darf ich die Fragen beantworten. Für jede reicht mir der Bahn-Mitarbeiter einen laminierten DIN A4-Bogen, bei dem jeweils sechs Antwortmöglichkeiten zur Auswahl stehen. „Wie beurteilen sie den Online-Service der Deutschen Bahn?“ Ich verkünde das Gut. „Können Sie mir bitte den Zahlencode nennen?!“ Der steht vor dem Gut und ich sage: „22.“. Bei Fragen zu Fahrkosten, deren Transparenz und zur zeitlichen Dauer der Online-Buchung werde ich ein wenig ausführlicher. Da ich jedoch keinen passenden Zahlencode aufspüren kann, ist Herr Albrecht nicht ganz Ohr und drängt auf mehr Rationalität. Gut ist rational.

 

In Bernau steigen wir nach einem Aufenthalt von 30 Minuten in den ersten verfügbaren Sorben-Express, der uns nach Senftenberg bringt. Bereits vor Berlin komme ich in den Genuss, den Namenszug eines weiteren Kundenberaters von einem Kärtchen zu lesen. Ich merke an, dass ich soeben schon an einer Befragung teilgenommen hätte. Unbeirrt von diesem Einwurf notiert Herr Thoms die gereichten Fahrscheindaten und übergibt mir die Antwortbögen. Auch die laminiert. Euphorisiert von der heute wohlwollend registrierten Pünktlichkeit des Dienstleisters, tendiere ich beim Großteil  meiner Einschätzungen jetzt zu einem Sehr gut und diktiere dem Befrager die entsprechenden Zahlencodes. Das habe ich schnell erlernt. Einzig bei der Toilettenfrage muss ich passen, aber nicht benutzt heißt weiß nicht und ergibt laut Handzettel die 44.

 

Lina mag nun spielen und wir bauen uns gegenseitig kleine Silbenrätsel. Ich frage darin geografisches Allgemein-, sie pferdegebundenes Fachwissen ab. Im letzten Rätsel, das ich ihr präsentiere, ermittelt sie mit einer Hilfestellung (Hauptstadt von Burkina Faso) das Lösungswort Einhorn. Wenig später erreichen wir Hoyerswerda, verlassen den Schienenweg und steigen ins Auto meines Vaters. Der schaltet das Radio an und aus den Boxen erklingt „The Last Unicorn“ von Jimmy Webb. „Hör mal!“, sage ich breit grinsend und meine Tochter muss herzhaft lachen. Passt ja, denke ich und als später, auf unserer lockeren Fahrrad-Runde um den Dreiweiberner See, eine Depesche meiner Liebsten einfliegt, erfahre ich, dass es auch in Greifswald fantastisch läuft. Deren kryptischen Bericht von botanischen Ausgrabungen kann ich deuten und erhalte für meine Replik ein saftiges Sehr gut. Verbal und ohne Code.

 

 

Kryptische Nachricht mit Namen und Fantasiebotanik: Zinnie, Kosmee und andere Daten sehr gut entschlüsselt.

Der Kurzbesuch endet am Sonntag und wir sitzen zur heißen Mittagsstunde in der Bahn. Ab Senftenberg schickt uns diese nicht auf direktem Weg nach Berlin sondern erst einmal nach Cottbus. Kurz vor Erreichen der Lausitzer Metropole vermisse ich bei der Durchsage der Anschlusszüge den unsrigen und befürchte: „Lina – hier ist etwas nicht in Ordnung.“  Von dieser Unordnung dürfen wir uns dann auf dem Bahnhof überzeugen. Anhand eines leeren Bahnsteiges und umfangreicher Aushänge, die in bunten Farben ein Umleitungs- und Ausfallchaos dokumentieren. Desorientiert wähle ich den Gang zur Information. „Haben Sie denn keinen Umleitungsalarm installiert?“, werde ich gefragt. Ich entschuldige: „Sorbistan zählt nicht zu den Regionen der Republik, die mit einem lückenlosen Netz ausgestattet sind. Und ich lebte quasi zwei Tage in einer solchen Lücke.“ Die nette Auskunftsdame lächelt verständnisvoll, druckt mir neue Zugverbindungen aus und sagt, wir müssten erst nach Calau, um dort in einen Zug via Berlin umzusteigen.

 

 

Senftenberg bei 30 Grad Celsius. Über Jahrzehnte akkumulierter Kohlenstaub macht die Luft stickig. Kein Bär, der steppt.

Dieser Zug verlässt Calau knappe vier Stunden nach unserer Abfahrt. Der Luftlinienberechner zeigt mir in diesem Moment eine absolvierte Strecke von 40,09 Kilometern an. Über geomorphologisch beruhigtes Areal. Ich kläre meiner Tochter darüber auf, dass mich hartes Training in vergangenen Phasen meines Lebens befähigte, diese Distanz in einer ebensolchen Zeit zu Fuß zurückzulegen wie es das von uns genutzte fortschrittliche Verkehrsmittel tat. Anschließend zeige ich ihr auf einer Karte, dass wir soeben mit Hilfe der Deutschen Bahn ein formvollendetes Z in die sorbische Landschaft gemalt haben. Erzähle ihr von Buchstaben im Schnee, von schwarzen Mänteln und Masken, von Zorro und Alain Delon. Den kenne sie allerdings nicht. Aber früher, versichere ich ihr, standen die Mädchen auf ihn.  

 

Auf dem Gleis in die Heimat passieren wir den Bahnhof Brand in Nordsorbistan. Der Schaffner streift durch das Abteil und verlangt nach unserem Ticket. Er besitzt ein Lesegerät und schiebt den QR-Code hinein. Dann schaut er mich und seine Technik im Wechsel an, ohne dass ich an seiner Miene eine Veränderung bemerke. Quick Response. Minutenlang. Ich werde unruhig und frage: „Ist etwas nicht in Ordnung?“

 

 „Kein Netz.“

 

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Kommentare: 1
  • #1

    XY und Z (Freitag, 10 Juni 2016 16:35)

    Klasse Geschichte!